Referat in Ergänzung zu Ingrid Strobls Film "Mir zeynen do", der zu den Antifaschistischen Aktionstagen in Saarlouis vom 7. bis 13. Oktober 1996 gezeigt wurde


Wir zeigen heute Ingrid Strobls Film "Mir zeynen do" über den Ghettoaufstand und die jüdischen PartisanInnen von Bialystok im August 1943.
Wir zeigen diesen Film, weil wir es wichtig und notwendig finden, die Erinnerung wachzuhalten an den Widerstand gegen die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie. Das bedeutet auch: Die Bedingungen, die Entwicklung und Organisierung von Widerstand in fast ausweglosen Situationen und gegen einen (scheinbar) übermächtigen Feind zu begreifen. Und was den Widerstand in Deutschland selbst anbelangt - und das wollen wir hier deutlich sagen - sein vollkommenes Versagen.
Wir brauchen innerhalb einer sich neu formierenden radikalen Linken auch die bewußte, kontinuierliche und vor allem kollektive Auseinandersetzung über den Nationalsozialismus, die Politik der Vernichtung und des Völkermords in fast unvorstellbarem Ausmaß an Sinti und Roma, an den europäischen Juden und Jüdinnen, an der sowjetischen Bevölkerung, an sogenanntem "unwerten Leben" und sogenannten "Asozialen" und an Homosexuellen.

Für die politische Arbeit heute in antirassistischen und antifaschistischen Initiativen und im Kampf für eine grundlegende gesellschaftliche Umwälzung im internationalen Zusammenhang halten wir diese Auseinandersetzung für eine notwendige Bedingung, das Vergangene und darin die Gegenwart zu begreifen, als eine Voraussetzung für ihre Veränderung.

Gegen das Vergessen - das heißt den Zusammenhang ticken zwischen dem Nationalsozialismus damals und dem Rassismus, dem Antisemitismus und der imperialistischen Kriegspolitik heute. Eine Anstrengung, die unbedingt laufen muß, denn in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen von heute ist die gesamte Linke keine orientierende Kraft. Mehr oder weniger Randerscheinung, reicht ihr Widerstand politisch kaum noch an die gesellschaftlichen Realitäten in diesem Land heran.
Gesellschaftliche Realitäten: Damit meinen wir die ganze Welle rassistischer und antisemitischer Gewalt, die in ihrer Tendenz nicht rückläufig ist. Saarlouis, Hoyerswerda, Mannheim, Rostock, Solingen bis hin zu Lübeck, wo in infamster Weise die Opfer eines 10-fachen rassistischen Mordanschlags zu Tätern gemacht werden.

Gesellschaftliche Realitäten, damit meinen wir auch die Abschaffung des Asylrechts, die Deportationsabkommen zwischen der BRD und Rumänien für Sinti und Roma;
damit meinen wir den rassistischen Krieg, den dieser Staat an seiner Ostgrenze mittels Bundesgrenzschutz, modernster Technologien und oft in Zusammenarbeit mit örtlichen Bürgerwehren gegen Flüchtlinge führt, und der dann im Landesinnern fortgesetzt wird gegen die wenigen, die es auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und zerstörten Lebensbedingungen dennoch gepackt haben, hierher zu kommen: Verfolgt von polizeilichen Sonderkommissionen, ghettoisiert in Sammellagern und bis zur Deportation eingesperrt in Abschiebeknästen.

Gesellschaftliche Realität ist auch die 1982 angekündigte und im Kippen der internationalen und innergesellschaftlichen Kräfteverhältnisse mittlerweile durchgesetzte "geistig-moralische Wende". Eine ideologische Offensive, in der - und das ist nur ein, wenn auch gravierendes Beispiel - die Geschichte des deutschen Faschismus durch eine Vielzahl von Umdeutungen, Neu-Interpretationen und offiziellen Gedenkfeierlichkeiten ganz im Sinne einer herrschenden Klasse entsorgt wird, die heute wieder "weltweit dabeisein will", wie es der Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr Klaus Naumann einmal formulierte (Die Woche, 27.9.1996).

Es geht in der Verbindung von damals zu heute um nicht weniger, als sich einen wirklichen Begriff der gesellschaftlichen Bedingungen anzueignen, aus denen und gegen die wir kämpfen, denn die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen, die den Nazismus ermöglichten, existieren nach wie vor.

Heute wollen wir im Kontext des Films ein paar Aspekte herausarbeiten, in denen deutlich wird, daß es von deutscher Seite einen Massenkonsens zum NS-Regime gab, daß Widerstand gegen die faschistische Vernichtungspolitik in diesem Land eine Randerscheinung war, und konsequenter Widerstand - wie der Film es dann am Beispiel der jüdischen PartisanInnen deutlich macht - nur von Außen kam.

In den zwölf Jahren faschistischer Diktatur und der über Europa hinwegrollenden Vernichtungsmaschinerie gab es niemals eine innere Front gegen den Nazismus, die ein Bündnispartner der Roten Armee, der Résistance oder den sich in allen von der deutschen Wehrmacht besetzten Ländern organisierenden Partisanenverbänden hätte sein können.
Ulrich Herbert, ein bürgerlicher Wissenschaftler, hat das in seinen Worten einmal so formuliert: "Der Widerstand war in Deutschland eine Sache von politischen und sozialen Randgruppen der Gesellschaft und kam nicht aus ihrer Mitte". (1)

In der Tat: linken, und erst recht bürgerlichen antifaschistischen Widerstand gab es in Deutschland immer nur vereinzelt und nicht massenhaft, punktuell und nicht kontinuierlich.
Uns interessiert dabei - und das gilt es auch aus heutiger Sicht zu begreifen - die absolute Schwäche linker Politik, die Tatsache, daß radikale linke Politk, also der Kampf und die Organisierung für gesellschaftliche Umwälzung, tatsächlich eine absolute Minderheitenposition war, daß sie nicht nur im gesellschaftlichen Zusammenhang, sondern auch innerhalb des Proletariats isoliert war.

Sicher war die KPD, die Kommunistische Partei Deutschlands als die organisierte Kraft der radikalen Linken, Gegnerin der Nazis. Das steht außer Frage. Doch ihr Widerstand wurde von den faschistischen Machthabern erwartet und die Partei in kürzester Zeit zerschlagen. (2)

Die KPD war nicht wirklich auf die faschistische Herrschaft vorbereitet. Nach dem 30. Januar 1933 gab es zwar noch antifaschistische Demonstrationen und Flugblattaktionen, aber einen wirklichen Widerstand in Form von Streiks und militanten Aktionen gab es nicht. Auf Grund ihrer eigenen falschen politischen Orientierung, zu der wir gleich noch was sagen, blieb unbegriffen, was zu tun war: die Illegalität als Handlungsraum zu organisieren und in der Perspektive konsequenten und notwendigerweise bewaffneten Widerstand gegen das NS-Regime zu organisieren.

Doch die KPD war nicht auf die Illegalität vorbereitet, sie organisierte sie noch nicht einmal nach dem 30. Januar 1933. Der jetzt massiv ausholenden staatlichen Repression, dem zunehmenden Terror durch SA und Gestapo, dem Eindringen der Nazis in die proletarischen Milieus, dem Spitzelwesen - diesem ganzen Druck mußte sich die KPD beugen. Illegalität wurde nur noch zur Abwehr der Verfolgung: Abtauchen, um das Überleben zu sichern, was zwar nicht verwerflich ist, aber eine politische Offensivposition ist das nicht.

Der Grund für die vollkommene und fast widerstandslose Niederlage der KPD und somit auch der gesamten Linken lag im wesentlichen in ihrer teilweise falschen, teilweise unzulänglichen politischen Orientierung. In Stichworten: Im Grunde der Verzicht auf offensive revolutionäre Politik, stattdessen Konzentration auf Lohn- und Arbeitskämpfe, Parlamentarismus - aber auch im Gesamtzusammenhang entsprechend der defensiven Politik der Kommunistischen Internationale (wie z.B. Volksfrontpolitik = Teilhabe an bürgerlicher Regierungsgewalt, Verteidigung der Sowjetunion unter der <mechanischen> Doktrin "Aufbau des Sozialismus in einem Land"). Wir führen das hier nicht weiter aus, es ist klar, daß das noch viel genauer analysiert und ausgewertet werden muß. (3)

Auf einen Punkt wollen wir dennoch genauer eingehen: Der falsche Begriff der KPD vom NS-Faschismus, als einer Herrschaftsform von oben, in der das eigene Volk, oder in ihren Worten: die Arbeiterklasse und die revolutionäre Bauernschaft, versklavt sind, entsprach der Faschismus-Definition nach Dimitroff und war auch die offizielle Doktrin der Kommunistischen Internationale. "Faschismus bedeutet Macht des Finanzkapitals. Er ist die Organisation des terroristischen Kampfes gegen die Arbeiterklasse und den revolutionären Teil der Bauernschaft und Intelligenz."

Selbst im Angesicht des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion wurde diese Linie beibehalten. So sagte der sowjetische Außenminister Molotov in einer Rundfunkrede vom 22.6.1941: "Dieser Krieg ist uns nicht vom deutschen Volk, nicht von den deutschen Arbeitern, Bauern und Intellektuellen aufgezwungen, deren Leiden wir sehr gut verstehen, sondern von der Clique der blutrünstigen faschistischen Machthaber Deutschlands, die die Franzosen, Tschechen, Polen, Serben, Norwegen, Belgien, Dänemark, Holland, Griechenland und andere Völker unterjocht haben." Oder Stalin in einer Rundfunkrede vom 3.7.1941: "In diesem großen Krieg werden wir treue Verbündete an den Völkern Europas und Amerikas haben, darunter auch am deutschen Volk, das von den faschistischen Machthabern versklavt ist."
Darin ist vollkommen ausgeblendet, daß es sehr wohl einen Massenkonsens gab, daß Volksgemeinschaft nicht nur Nazi-Propaganda war, sondern tatsächliche sinn- und identitätsstiftende Realität für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung.

Darin ist aber auch ausgeblendet, daß Rassismus und Antisemitismus schon vor, aber erst recht innerhalb des NS-Systems eine grundlegende Bedeutung hatten. Ein Umstand, der darauf zurückzuführen ist, daß es weder innerhalb der KPD, noch in der Kommunistischen Internationalen einen Begriff gab über das, was Rassismus und Antisemitismus sind. Nebenbei gesagt - weil auch das eine eigene Untersuchung bräuchte - reduzierte sich für die KPD Antisemitismus auf "Vorurteile", ja er wurde sogar teilweise positiv interpretiert, als unbewußter Reflex gegen das Finanzkapital. Was natürlich sorum Ausdruck ihres eigenen verinnerlichten Antisemitismus war.

Die Niederlage der KPD und auch das Zerschlagen der traditionellen Arbeiterorganisationen führte zu Beginn und Mitte der 30er Jahre innerhalb der proletarischen Klasse zu massenhafter Resignation und Individualisierung. Angesagt waren Anpassung an die "Normalität" und Rückzug ins Familienleben und in die Arbeit, was ja nach Jahren der Arbeitslosigkeit mit dem Einsetzen der Rüstungskonjunktur wieder möglich wurde.

Mit dem endgültigen Kippen der Kräfteverhältnisse gelang es dem Nazismus nicht nur linke und emanzipatorische Inhalte zu entpolitisieren, sondern auch immer mehr völkisch-reaktionäre Inhalte - im Rückgriff auf den strukturell existierenden Rassismus und Antisemitismus - innerhalb großer Teile des Proletariats zu verankern und zu verbreitern.

Auf Grund der nationalsozialistischen "Modernisierung", die, wie schon vorher erwähnt, mit dem Einsetzen der forcierten Rüstungskonjunktur voll zum Tragen kam, wurde die Integration des Proletariats in die volkgemeinschaftliche Formierung auch materiell möglich. Man sprach schon damals vom NS-Wirtschaftswunder.

In seinem Aufsatz: "Arbeiterschaft unter der NS-Diktatur" schreibt der Historiker Ulrich Herbert: " Aber es gab eben auch wirksame soziale Verbesserungen, die auf die Einstellung der Arbeiterschaft gegenüber dem Regime einige Auswirkungen hatten. Von Bedeutung waren dabei vor allem die freizeitpolitischen Maßnahmen
-Einführung eines Mindestjahresurlaubs von im Durchschnitt sechs Tagen,
Aufbau einer Massentourismus-Organisation in Gestalt der "Kraft durch Freude",
die 1938 immerhin 10,3 Millionen Urlaubsreisen organisierte und sonstige Freizeitveranstaltungen mit mehr als 54 Millionen Teilnehmern durchführte." (4)

Die Integration war natürlich nicht vollkommen glatt und widerspruchslos. So gab es immer wieder auch "Arbeitsbummelei", Protestaktionen, ja sogar Streiks gegen das Lohnregime und die sehr wohl enormen Belastungen, denen die Arbeiter und Arbeiterinnen auf Grund der anrollenden Rüstungsproduktion unterworfen waren. Aber all das blieb ausnahmslos innerhalb des Systems und wurde auch innerhalb des Systems geregelt.

Wer sich ohne größere politische Auflehnung anpaßte und bereitwillig im gesellschaftlichen Mainstream mitschwamm, dem ging es als Deutscher in den späten 30er Jahren alles in allem gut, immer vorausgesetzt, man fiel nicht unter die Gruppen, die zu den rassistisch Verfolgten oder vom Euthanasieprogramm Betroffenen gehörten. Jedenfalls war der NS für die übergroße Mehrheit der Deutschen nicht die "nackte Terrorherrschaft des Finanzkapitals", und versklavt fühlten sie sich auch nicht.

Und mehr noch! Die volksgemeinschaftliche Formierung war ja nichts passives - sondern bedeutete in ihrer Konsequenz, daß die absolute Mehrheit der deutschen Bevölkerung geschlossen und in aktiver Zustimmung, ja mit Begeisterung hinter der gesamten Politik der Nazis stand.

Und die vielleicht noch hier und da vorhandenen Zweifel und Widersprüche wurden mit jedem Sieg der Wehrmacht zu Beginn der faschistischen Kriegs- und Eroberungspolitik regelrecht hinweggefegt. Deutschland war im Siegestaumel!

Am 17. Juni 1940 meldete der SD (innenpolitischer Geheimdienst der SS):
"Die Nachricht vom Einmarsch deutscher Truppen in die kampflos übergebene französische Hauptstadt versetzte die Bevölkerung in allen Teilen des Reiches in eine bisher in diesem Maße noch nicht erlebte Begeisterung. Auf vielen Plätzen und Straßen kam es zu lauten Freudenkundgebungen und herzlichen Begeisterungsszenen." (5)

Als am 22. Juni 1941 die Wehrmacht mit insgesamt 3,6 Millionen deutscher Männer die Sowjetunion überfiel, begann das wohl verbrecherischste und brutalste Kapitel eines imperialistischen Krieges in der Geschichte der Menschheit. Anknüpfend an die schon im 1. Weltkrieg kontinental nach Osten ausgerichtete imperialistische Strategie zur "Neuordnung Europas" verschmolz das faschistische Kriegsziel vom "Lebensraum im Osten" mit den rassistischen, antisemitischen und antikommunistischen Grundlinien der NS-Ideologie.

Anfang Mai 1941 erklärte der Chef der Panzergruppe 4, Generaloberst Hoepner zur bevorstehenden Kriegsführung gegen die Sowjetunion:
"Der Krieg gegen Rußland ist ein wesentlicher Abschnitt im Daseinskampf des deutschen Volkes. Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch-asiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewismus. Dieser Kampf muß die Zertrümmerung des heutigen Rußland zum Ziele haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden."
Der gleiche Hoepner war später einer der sogenannten Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, auf die sich die heutige BRD gerne bezieht. (6)

Der vorrückenden Wehrmacht folgten die Einsatzgruppen der SS und eröffneten eine zweite, gleichsam innere Front, um die NS-Besatzungspolitik durchzusetzen, sei es zur Niederhaltung und Zerschlagung von Partisanengruppen, sei es in einer Politik kontinuierlicher Massaker gegen die jüdische Bevölkerung. Den generalstabmäßig durchgeführten Erschießungen von jüdischen Männern, Frauen und Kindern folgte dann ab 1942 die fabrikmäßige Ermordung der Juden und Jüdinnen in extra dafür organisierten Vernichtungslagern.

Spätestens mit dem Überfall auf die Sowjetunion und der damit gleichzeitig einsetzenden systematischen Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung und der Sinti und Roma in Europa wurde der Krieg zum Krieg der Deutschen. (7) Der Krieg gegen die Sowjetunion war nicht nur von Anfang an als antikommunistischer, rassistischer und antisemitischer Vernichtungskrieg geplant, er wurde auch genauso geführt. In der jetzt auf breiter Front anrollenden Vernichtungsmaschinerie kam in mörderischer Konsequenz die sinn- und identitätsstiftende volksgemeinschaftliche Formierung zum Tragen. Vom sogenannten einfachen Soldaten, bis hin zu den Mitgliedern der Einsatzgruppen der SS, die Deutschen waren davon überzeugt; von dem was sie taten, und daß es das Richtige war.

Auf dem Höhepunkt der NS-Vernichtungspolitik wurde deutlich, "wie weit der Alltag unter der Naziherrschaft zwangsläufig von der verbrecherischen Politik des NS-Regimes durchdrungen war. Vor allem für die - aus allen Gesellschaftsschichten kommenden - Zehntausenden von deutschen Besatzern, die in den eroberten osteuropäischen Ländern stationiert waren, stellte die Massenmordpolitik des NS-Regimes keine Abfolge anomaler oder außergewöhnlicher Ereignisse dar, die den "Alltag" kaum beeinflußt hätten ... Massenmord und Alltagsroutine (wurden) schließlich eins", wie Christopher Browning in der Einleitung zu seinem Buch "Ganz normale Männer" feststellt.


Woher sollten nach dieser - von den meisten Deutschen getragenen - faschistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik die Subjekte einer tiefgehenden Aufarbeitung nach 1945 kommen?
Welche gesellschaftliche Gruppe, außer den befreiten Gefangenen und den aus dem Exil Heimgekehrten, hätte ein Interesse daran gehabt, zu verstehen was geschah?

Dies setzt eine subjektive Distanz, vor allem zur direkten Täterschaft und zum Nutznieß, voraus.
Die Verstrickungen waren jedoch vielfältigst vorhanden.

In seinem Buch "Hitlers Wehrmacht" schreibt Omer Bartov zum Beispiel: "Praktisch jede Familie hatte zumindest einen Soldaten an die Front geschickt. Die jungen Männer, die von den Schlachtfeldern nach Hause kamen, wurden die Arbeiter und Beamten, die Professoren und Technokraten, die Bankiers und Politiker, Richter und Anwälte, Schriftsteller und Dichter Nachkriegsdeutschlands." (8)

Hier werden vielleicht einige anwesend sein, die die Feldpost von Soldaten an ihre Familie aus der Schublade ihrer Großmutter kennen, getragen von völkisch-nationalistischem Stolz.

Statt verstehen bleiben Erklärungsversuche die verschleiern, rechtfertigen, verdrehen. "Wir haben von nichts gewußt", "Widerstand gegen das Terrorregime war nicht möglich" bis hin zu der Behauptung, mit innerer Emigration Widerstand geleistet zu haben.

Wir bleiben auch nicht verschont davor, daß Großeltern oder Eltern, die im Nationalsozialismus gelebt haben, in Erinnerungen an "diese ihre schönste Zeit" schwelgen. An die Kameradschaft, die Ferienfreizeiten der Hitler-Jugend oder des Bund deutscher Mädchen, an die guten Freundschaften aus Evakuierungszeiten denken sie gerne. (9)
Solche Dumpfheit treibt ihre Blüten bisweilen soweit, daß die schlimmste Erinnerung an Kriegszeiten sich im Beklagen ihres während der Evakuierung gestohlenen Tafelsilbers erschöpft.

Gemeinsam ist allen stumpfsinnigen Rechtfertigungsversuchen eine kollektive Ignoranz gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus. Gegenüber denen, die nie die Freiheit zur Entscheidung hatten mitzumachen, sich in dieser oder jener Form anzupassen oder Widerstand zu leisten.

Daß Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" noch vor seinem Erscheinen in deutscher Sprache viele Politiker, Schriftsteller, Historiker und sonstige Intellektuelle zu gemeinsamer Abwehr auf den Plan rief, braucht vor diesem Hintergrund nicht zu verwundern.

Goldhagen gibt dem Begreifen des Völkermords an den Juden und Jüdinnen Erklärungshilfen, wenn er in einem Spiegel-Interview feststellt:
"Die Vernichtung der Juden wäre ohne die Beteiligung einer großen Zahl von Menschen, die aus allen Schichten der deutschen Gesellschaft stammten, nicht möglich gewesen. Diese Menschen waren von der Regierung mobilisiert und in einer großen Menge von Institutionen tätig.", und weiter "Die Täter handelten weder in erster Linie aus Zwang noch aus Obrigkeitshörigkeit, weder aufgrund von sozialem Druck noch aus Eigeninteresse, auch nicht aus bürokratischer Kurzsichtigkeit. Ausschlaggebend war, daß sie einen in der ganzen deutschen Gesellschaft virulenten Antisemitismus teilten." (10)

Damit trifft er den Nerv einer Gesellschaft, die damals wie heute ihre Interessensidentitäten mit der Staatsmacht pflegt, und zu deren Fundament bis heute die Leugnung und Verdrängung der eigenen Teilhabe und Verantwortung an der Shoa gehört.


(1)
Ulrich Herbert "Widerstand und Traditionsbildung - das Beispiel Georg Elser", aus Lutz Niethammer u.a. "Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland", Seite 505, Fischer, Geschichte 1990 Frankfurt/Main.

(2)
Fernando Claudin schreibt dazu in "Die Krise der kommunistischen Bewegung", Band 1, Olle & Wolter, 1977 Berlin, Seite 139: "Die Musterpartei der KI (Anm. Kommunistischen Internationale) verschwand als effektive politische Kraft von der historischen Szene. Dies war die schwerste Niederlage in der Geschichte der Kommunistischen Internationale, die einschneidenste und dauerhafteste Fortwirkungen auf den weiteren Gang der revolutionären Bewegung in Europa haben sollte."

(3)
Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Jan Raspe - Manuskript zur "Erklärung zur Sache" im Prozeß in Stammheim 1975/76: "...einmal natürlich der ökonomismus der 3.internationale, ihre fehleinschätzung sowohl der kampfkraft des proletariats, worin seine neuzusammensetzung nach dem 1.weltkrieg - taylorismus, dequalifizierung, neue organische zusammensetzung des kapitals - sowie die irrationalität und das repressionspotential der bourgoisie nicht begriffen war, sodaß 1933 weniger eine niederlage der organisationen des proletariats war, als die besiegelung ihrer kapitulation - ihres verzichts auf offensive, proletarische politik." zitiert nach "Zusammen Kämpfen" , Januar 1986, Seite 1.

weiterhin: zur Situation und Entwicklung der Sowjetunion in den 30er Jahren in "An den Grenzen zweier Epochen", Kampfkomitee der Gefangenen aus Action Directe, Zusammenstellung - Sonderausgabe November 1992, Seite 4ff.

(4)
Ulrich Herbert "Arbeiterschaft unter der NS-Diktatur", aus Niethammer u.a. "Bürgerliche Gesellschaft..." Seite 452

(5)
In einem weiteren Bericht vom 24.Juni 1940 meldete der SD: "...Unter dem Eindruck der großen politischen Ereignisse und im Banne der militärischen Erfolge hat sich im gesamten deutschen Volke eine bisher noch nicht erreichte innere Geschlossenheit und enge Verbundenheit von Front zu Heimat herausgebildet. Der Tätigkeit der Gegnergruppen ist überall der aufnahmefähige Boden entzogen (...) Gegnerisches Wirken stößt überall auf Ablehnung. Der überwiegend verbreitete gesunde Abwehrwille der Bevölkerung verschließt sich wirksam der hetzerischen und miesmacherischen Einflüssen. Man beachtet sie entweder gar nicht oder lehnt sich empört dagegen auf (...) Innerhalb der früher kommunistisch und marxistisch eingestellten Kreise kann von einer organisierten Gegnertätigkeit nicht mehr die Rede sein..."
beide Zitate nach Ulrich Herbert ebd. Seite 459

(6)
Ulrich Herbert "Die Planung der wirtschaftlichen Ausbeutung der UdSSR", aus Niethammer u.a. "Bürgerliche Gesellschaft..." Seite 444

(7)
In der Schlußbemerkung zu seinem Buch "Hitlers Wehrmacht", Rowohlt 1995 Hamburg, schreibt Omer Bartov Seite 271ff: "Die Arbeiterklasse ging in der Wehrmacht auf. Die Arbeiter (...) verwandelten sich im Verlaufe des Krieges zu überzeugten Kämpfern Hitlers und Repräsentanten der <Herrenrasse> in den von Deutschland besetzten Gebieten (...) Während des gesamten Krieges verzeichnete die Wehrmacht keine Aufstände von Arbeitern, ja nicht einmal eine einzige Meuterei. (...) An der Verwandlung der deutschen Arbeiter in Hitlers Soldaten läßt sich ermessen, wie erfolgreich das Regime die gesamte Nation für seinen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug mobilisierte. Natürlich kämpften die Soldaten an der Front aus verschiedenen Gründen; sie kämpften um ihr Leben, für das ihrer Kameraden, für die Sicherheit ihrer Familien im Reich, für Deutschlands Sieg und für seine wirtschaftliche Zukunft. Aber Arbeiter oder nicht, sie kämpften auch gegen <Plutokratie>, <asiatischen Barbarismus> und <jüdischen Bolschewismus> und verstanden sich als Verteidiger der <deutschen Kultur> und der <westlichen Zivilisation>. Und in diesem Sinne kämpften sie für den Nationalsozialismus und alles, wofür er stand."

(8)
Omer Bartov ebd. Seite 273

(9)
Anfang 1939 waren von den 8,8 Millionen 10 bis 18 Jährigen 8,7 Millionen in der HJ bzw. dem BDM organisiert. Eine ganze Generation junger Menschen wurde also auch von den NS-Jugendorganisationen, in denen u.a. sehr viel Wert auf militärische Ausbildung gelegt wurde, geprägt. Die Organisierung in HJ und BDM waren bestimmt von "Zucht und Ordnung" und unbedingtem Gehorsam. Ihre Hauptinhalte waren entsprechend der NS-Ideologie: Antisemitismus, Rassismus, Antikommunismus und völkischer, also sozialdarwinistisch und biologistisch begründeter, Nationalismus. Tatsache ist, daß in diesen Organisationen eine zutiefst prägende, massenhafte Aneignung nazistischen Drecks lief und daß in ihnen die übergroße Mehrheit der deutschen Jugend mit Begeisterung dabei war.

(10)